Microliving

GROSSER WOHNTREND AUF KLEINEM RAUM.

Zwei Schritte vom Bad zur Küche, aufgeräumt in 10 Minuten: Weil Platz in Großstädten zum Luxusgut geworden ist, entstehen weltweit immer mehr Microapartments. Die komplett ausgestatteten Ein-Zimmer- Wohnungen mit Größen zwischen 20 und 35 Quadratmetern liegen auch in Deutschland voll im Trend.

09. September 2021 / Lesedauer: 11 Minuten
Urban Min
© Oskars Sylwan - unsplash.com

STUDIUM.
BUSINESS.
FREIHEIT.

Es wird eng in den Städten. Nicht nur in Metropolen wie New York, London oder Tokio, auch in Berlin drängen immer mehr Menschen auf eine Fläche, die begrenzt ist. Von Stadtflucht keine Spur. Wohnraum in der Stadt wird knapp und teuer. Gleichzeitig sind immer mehr Studierende, Singles und Pendler auf der Suche nach möblierten Apartments in zentraler Lage. Mittlerweile ist der Ein-Personen- Haushalt die verbreitetste Form des Wohnens in Deutschland. Rund 40 Prozent der Deutschen leben allein. Dieser Trend dürfte sich auch in Zukunft fortsetzen: Nach einer Prognose des Statistischen Bundesamtes wird die Zahl bis zum Jahr 2030 auf etwa 44 Prozent steigen. Diese Entwicklung stellt Kommunen, politische Entscheidungsträger und die Immobilienwirtschaft vor immense Herausforderungen. Es geht darum, die vorhandenen Flächen durch innovative Konzepte zu verdichten und neue Wohnformen zu etablieren.

Ein vielversprechender Ansatz ist das sogenannte Microliving: zentrales, möbliertes Wohnen zu einem fairen Preis, in smarten Microapartments, die den idealen Ausgangspunkt für ein aktives Leben am Puls der Zeit bieten – inklusive kurzer Wege, attraktiver Infrastruktur, guter Verkehrsanbindung und schnellem Zugriff auf eine Vielzahl urbaner Freizeitangebote. Auch wenn der Begriff Microapartment erst seit den 2000er Jahren vermehrt verwendet wird, ähnliche Konzepte gibt es schon länger. Ein Beispiel dafür ist etwa der Nakagin Capsule Tower in Tokio mit seinen kleinen, vormals austauschbaren Wohnkapseln. Die Vorläufer der modernen Microapartments sind allerdings die Apartment-Hotels, die ursprünglich für längere Geschäftsreisen gedacht waren. Dabei wohnen die Gäste in kleinen Apartments, die vom Hotelpersonal gereinigt werden. Dieses Wohn- und Servicekonzept wird nun vermehrt auf reguläre Wohnungen übertragen.

Wohin die Reise gehen könnte, verrät ein Blick nach New York: Mitte 2020 zogen die ersten Mieter in die 55 Mini-Wohnungen des neunstöckigen Carmel Place auf der East Side Manhattans ein, dessen Arbeitstitel „My Micro NY“ war. Die Apartments sind zwischen 24 und 32 Quadratmeter klein und wurden in Modulbauweise wie Bauklötze auf einem schmalen Grundstück gestapelt. 32 der Wohnungen wurden zu marktüblichen Preisen vermietet, zwischen 2.450 und 3.200 Dollar, acht waren für Veteranen reserviert, eine für den Verwalter und die verbleibenden 14 Einheiten mit reduzierter Miete wurden unter 60.000 Bewerbern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen verlost. Zum Konzept gehören eine Gemeinschaftsdachterrasse, Fitnesscenter, Waschsalon und WLAN. Mit einer eigenen App, sie heißt „Hello Alfred“, sind Services wie Putzen, Wäschewaschen oder Hundeausführen verfügbar. Die Wohnungen haben raumhohe Fenster und eine Deckenhöhe von drei Metern, was die winzigen Grundflächen spürbar aufwertet.

Microliving
Microliving: urbanes Leben zu einem fairen Preis.
© Nick Samoylov - unsplash.com

Auf der anderen Seite des Kontinents, in San Francisco, verknüpfen junge Start-Ups das Thema Microliving mit der Tech-Kompetenz des Silicon Valley. Das Ziel: kleine Räume so gestalten, dass es sich luxuriös anfühlt, darin zu wohnen. Zum Beispiel in einem Raum, der Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer und Büro zugleich ist – ohne dass ein Schrank, eine Kommode oder ein Nachttisch zu sehen wären. Und doch ist alles da: Es schwebt unter der Decke. Leise surrend verwandelt sich das Schlafzimmer innerhalb von Sekunden in ein Wohnzimmer. Das Bett wird an Gurten in die Höhe gezogen und kommt direkt unter der Zimmer Decke zum Stehen. Quader surren herunter. Darin befinden sich Bücher und Zeitschriften. Oder Kleider. In einem anderen liegen Brille, Tablet und Schreibutensilien. Im Raum befinden sich zahlreiche Sensoren und Kameras. Künstliche Intelligenz hilft dabei, die Übersicht über das Hab und Gut zu behalten. Das Einzige, was man braucht, ist eine App. Über die steuert man die komplette Wohnung und findet, was man braucht – denn via App ist der Raum nach allen Habseligkeiten durchsuchbar. Wo sind die Tennissocken, das Lieblingsbuch, der Rasierschaum? Die App weiß es. Viele Millionen Dollar Risiko-Kapital stecken bereits in diesen und ähnlich innovativen Wohnkonzepten.

Mini-Küche
Wohnküchen waren gestern – zukünftig zählt platzsparende Funktionalität.
© Chuttersnap - unsplash.com

In Berlin, das sich in den nächsten 10 Jahren auf vier Millionen Einwohner einstellen muss, machen vor allem Studenten Microapartments salonfähig. Bereits 2012 ist das „Q216” aus einem umgewandelten DDR-Bürogebäude in Lichtenberg entstanden. Wo einst gearbeitet wurde, wird heute in 400 Miniwohnungen studiert, gelebt und gefeiert. In Kreuzberg gibt es seit Ende 2012 das 212 Apartments umfassende „The Fizz”, in Mitte ist das „Studio B” mit 390 Wohneinheiten an den Start gegangen und 2017 wurden in der Nähe des Mauerparks 700 Mini-Wohnungen unter dem Label „Cresco Urban Yurt” gebaut. Die Nachfrage hat dabei das Angebot stets weit übertroffen – ein Indiz dafür, dass das „Schrumpf-Wohnen“ offensichtlich ganz wunderbar in unsere Zeit passt. Und das, obwohl diese Wohnform kein Sonderangebot ist: Der erste Marktreport des noch jungen Bundesverbands Microliving wertete jüngst rund 20.000 Wohneinheiten in 96 Apartmenthäusern mit 553.000 Quadratmetern Wohnfläche aus. Die Apartments werden alle mit „All-In-Mieten“ vermietet, also inklusive Betriebskosten, Strom, Möblierung und WLAN, manchmal auch Bettwäsche. Die monatlichen Mieten liegen im Mittel bei 542 Euro, bewegen sich aber in einer sehr breiten Spanne von etwa 250 bis 1.310 Euro, was die große Heterogenität der Apartmenthäuser zeigt. Doch Geld ist ja bekanntlich nicht alles: Wer weniger Platz beansprucht, verbraucht weniger Energie und versiegelt weniger Fläche. Und sich von Ballast zu befreien und möglichst klimaneutral zu leben, ist schließlich einer der gesellschaftlichen Megatrends unserer Zeit.

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